Du kannst freundlich sein – und trotzdem klare Grenzen setzen.
Das eine schließt das andere nicht aus.
Radikale Freundlichkeit – klingt erstmal widersprüchlich. Aber genau darüber hat Nora Blum ein Buch geschrieben. Die Psychologin, SPIEGEL-Bestseller-Autorin und Gründerin des erfolgreichen Gesundheits-Start-ups Selfapy setzt sich dafür ein, wie wir wieder zu einem respektvollen und freundlichen Umgang finden können – mit anderen und mit uns selbst. Warum das gerade für unsere Kinder so wichtig ist und was Eltern konkret dazu beitragen können, das erzählt sie im Interview.
Im Interview
Nora Blum
Im Interview
Nora Blum
Ein Gespräch mit Bestseller-Autorin, Unternehmerin und Psychologin Nora Blum
Nora, schön, dass du da bist! Dein Buch heißt „Radikale Freundlichkeit“. Wie bist du auf dieses Thema gekommen?
Danke, ich freue mich auch sehr, hier zu sein! Die Idee kam aus verschiedenen Ecken meines Lebens. Einerseits aus meiner Zeit als Gründerin eines Gesundheits-Startups. Ich habe dort oft gehört: „Sei nicht zu nett“, „Du musst dich härter durchsetzen“. Das hat bei mir lange nachgeklungen und ich habe mich gefragt: Ist das wirklich so? Oder ist Freundlichkeit nicht gerade ein Erfolgsfaktor?
Als ich später aus dem operativen Geschäft ausgestiegen bin, habe ich noch bewusster wahrgenommen, wie viel Unfreundlichkeit uns umgibt, in der Politik, in den sozialen Medien, im Alltag. Ich wollte mit dem Buch deutlich machen: Freundlichkeit ist kein Nice-to-have. Sie ist essenziell für ein gelingendes Zusammenleben, für echte Beziehungen, für eine gesunde Gesellschaft.
Viele Eltern fragen sich: Kommt mein Kind mit Freundlichkeit wirklich weiter – oder muss es nicht eher lernen, sich durchzusetzen?
Das ist ein weitverbreitetes Missverständnis. Freundlichkeit und Durchsetzungsfähigkeit schließen sich nicht aus – im Gegenteil. Studien zeigen: Menschen, die freundlich und respektvoll auftreten, sind glücklicher, resilienter und erfolgreicher. Ich wünsche mir, dass Kinder von Anfang an lernen: Du darfst deine Bedürfnisse äußern, Grenzen setzen und dabei freundlich bleiben.
Ein Satz, den ich sehr mag und der hier gut passt, stammt von Stefanie Stahl: „Es geht keine Information verloren, wenn man etwas freundlich sagt.“ Wir dürfen aufhören zu glauben, dass man laut, hart oder unnachgiebig sein muss, um ernst genommen zu werden. Und genau das unseren Kindern vorleben.
Wie können Eltern verhindern, dass ihre Kinder zu „People-Pleasern“ werden?
People-Pleasing – also das ständige Bedürfnis, es allen recht zu machen – entsteht oft aus der Kindheit heraus. Wenn Kinder erleben: „Ich darf meine Gefühle nicht zeigen“, „Ich werde nur geliebt, wenn ich brav bin“, dann verinnerlichen sie: Anpassung = Sicherheit.
Daher ist es so wichtig, dass wir Kindern zeigen: Du darfst fühlen, du darfst Nein sagen, du darfst andere enttäuschen – und du wirst trotzdem geliebt. Und ganz wichtig: dass sie sehen, wie ihre Bezugspersonen diese Haltung selbst vorleben, indem sie respektvoll und freundlich, aber auch klar für sich einstehen.
Es gilt wieder: Freundlich Nein sagen ist möglich. Es geht nicht darum, jedem zu gefallen, sondern darum, ehrlich und respektvoll zu kommunizieren. Das schafft Transparenz, weil die anderen verstehen, wie es mir wirklich geht. Daraus entsteht Vertrauen und echte Beziehung wird möglich.
Wie sag ich meinem Kind: Sei freundlich – auch wenn andere unfreundlich sind?
Das ist ein heikler Punkt, bei Kindern noch mehr als bei Erwachsenen. Ich finde: Ja, auch in solchen Momenten dürfen wir freundlich bleiben. Aber ohne uns kleinzumachen.
Mir hilft der Gedanke: Wenn ich mich auf das gleiche Unfreundlichkeits-Level herablasse wie mein Gegenüber, eskaliert die Situation. Wenn ich dagegen mit Respekt reagiere – selbst wenn es schwerfällt, dann nehme ich oft den Druck raus.
Gerade bei Kindern ist es hilfreich, durch gezielte Fragen den Blick zu weiten, etwa so: „Was glaubst du, warum war der andere heute in der Pause so zu dir?“ Oder: „Was könnte vorher passiert sein?“ Vielleicht war das andere Kind selbst traurig oder wurde geärgert. Kinder sind nicht grundlos gemein. Sie verarbeiten Gefühle oft über Verhalten.
Natürlich soll ein Kind Grenzen ziehen, aus der Situation herausgehen und die eigenen Bedürfnisse wahren, etwa indem es sagt: „Ich möchte nicht, dass du so zu mir bist“. Gleichzeitig hilft es, auch Empathie zu üben und sich zu fragen: „Was war da eigentlich los beim anderen?“ Dieser Perspektivwechsel ist kraftvoll. Denn er hilft Kindern, Konflikte nicht persönlich zu nehmen und trotzdem selbstbewusst aufzutreten, ohne sich alles gefallen zu lassen.
Wie lernen Kinder denn, freundlich Nein zu sagen?
Indem wir es ihnen zeigen. Kinder lernen durch Nachahmung. Wenn sie erleben, dass wir Erwachsenen unsere Grenzen freundlich und klar setzen, dann lernen sie das auch. Wenn wir sagen: „Ich will das gerade nicht, danke“, statt einfach nur zu brüllen oder uns zu verbiegen, nehmen sie das mit.
Auch innerhalb der Familie, unter Geschwistern oder bei einem Streit können wir immer wieder spiegeln: „Gut, dass du Nein gesagt hast. Aber du kannst das auch ein bisschen freundlicher sagen.“
Im Grunde geht es um Balance: Selbstbehauptung ohne Härte. Grenzen ohne Kälte.
Und wie sieht es mit der radikalen Freundlichkeit uns selbst gegenüber aus?
Die ist mindestens genauso wichtig. Denn wie wir mit uns selbst sprechen, hat viel damit zu tun, wie mit uns früher gesprochen wurde.
Wenn ich als Kind bei Traurigkeit oder Frust zu hören bekomme: „Jetzt reiß dich mal zusammen!“, verinnerliche ich das. Wenn ich aber erlebe: „Fehler sind okay. Traurig sein ist okay. Ich bin trotzdem liebenswert“, dann lerne ich, mir selbst Mitgefühl entgegenzubringen. Das ist die Grundlage dafür, später auch mit anderen mitfühlend umgehen zu können.
Welche Rolle spielt Schule?
Eine riesige. Ich wünschte mir, es würde auch dort viel mehr über Werte wie Freundlichkeit, Empathie und Respekt gesprochen. Wie gesagt, es gibt so viele Studien, die zeigen: Wer freundlich ist, ist zufriedener, gesünder, resilienter und erfolgreicher.
Wenn ich mich an meine Schulzeit erinnere, denke ich mir, ich hätte öfter eingreifen können, wenn andere geärgert wurden, habe es aber nicht gemacht. Warum? Weil es uncool gewesen wäre. Hätte man mir damals gesagt: „Wer willst du sein? Eine, die mutig ist und anderen hilft?“ Das hätte etwas verändert.
Wir brauchen Rollenvorbilder, Aufklärung, Diskussionen über Werte – nicht nur Leistung, Leistung, Leistung. Vor allem in der Schule.
Und ja, das Bild von „nett ist die kleine Schwester von …“ muss dringend in den Müll. Freundlich zu sein bedeutet nicht, alles hinzunehmen. Es bedeutet, mit Rückgrat und Herz zu handeln.
Viele Eltern haben zum Thema „Kinder und Smartphones“ ein ambivalentes Verhältnis. Du selbst betitelst in Kapitel 3 deines Buchs das Smartphone als „Endgegner“ von Freundlichkeit – was hat es damit auf sich?
Viel, leider. Denn Studien zeigen: Wenn wir ständig aufs Handy schauen, werden Gespräche gestört. Die andere Person fühlt sich nicht gesehen. Und im Alltag, etwa in der U-Bahn, kriegen wir nicht mehr mit, wenn jemand Hilfe braucht oder einfach ein Lächeln vertragen könnte.
Besonders spannend fand ich eine Studie, die ich auch in meinem Buch zitiere und die zeigt: Nicht die Smartphone-Nutzung der Kinder beeinflusst ihre Empathiefähigkeit – sondern die der Eltern. Das bedeutet: Wenn Eltern ständig aufs Handy schauen, fehlt den Kindern das emotionale Gegenüber. In der Folge entwickeln sie eine geringere emotionale Intelligenz.
Auch Social Media führt bei Jugendlichen eher zu Einsamkeit als zu echter Verbindung. Das Thema ist schwer, keine Frage, gerade für Familien mit Heranwachsenden. Aber ich finde: Es lohnt sich, die Kämpfe zu kämpfen. Kein Elternteil, das ich kenne, sagt: „Ich hätte meinem Kind das Handy noch früher geben sollen.“ Eher im Gegenteil.
Eine letzte Frage: Wenn nur eine Botschaft aus deinem Buch hängen bleiben sollte. Welche wäre das?
Du kannst freundlich sein – und trotzdem klare Grenzen setzen.
Das eine schließt das andere nicht aus.
Danke dir, liebe Nora, für das offene und inspirierende Gespräch – und für dein wichtiges Buch!





