Dein Kind hat Schwierigkeiten, das Alphabet zu lernen? Lesen strengt es sehr an und beim Schreiben vertauscht es die Buchstaben? Könnten das Hinweise auf Legasthenie sein? Antworten auf diese Fragen sowie wertvolle Informationen über Therapie- und Fördermöglichkeiten findest du im Expertinnengespräch mit Patricia Pomnitz.
Legasthenie, auch Lese- Rechtschreibstörung (LRS) genannt, bezeichnet laut Wikipedia die massive und lang andauernde Störung des Erwerbs der Schriftsprache. Doch was steckt eigentlich dahinter? Wie äußert sich LRS, ab wann sollte ich eine Diagnostik anstoßen und welche Fördermöglichkeiten unterstützen mein Kind auf seiner Entwicklungsreise am besten? Wir haben mit Legasthenietherapeutin Patricia Pomnitz gesprochen.
Im Interview
Patricia Pomnitz
Sprachtherapeutin
Im Interview
Patricia Pomnitz
Sprachtherapeutin
Patricia Pomnitz ist diplomierte Legasthenietherapeutin und arbeitet seit mehr als 15 Jahren mit Kindern und Jugendlichen, die Schwierigkeiten im Sprach- oder Schriftspracherwerb haben. Ihre Vision ist es, betroffenen Familien früh individuelle Unterstützung zukommen zu lassen, damit jedes Kind sein Potential ausschöpfen kann. Auf ihrer Onlineplattform Sprachgold und in den sozialen Netzwerken (Instagram und Youtube @sprachgold) klärt Sie deshalb auf und gibt Eltern wertvolle Tipps.
Liebe Patricia, woran erkennen Eltern und Lehrkräfte mögliche Anzeichen von Legasthenie und ab welchem Alter treten sie auf?
Legasthenie kann sich bei jedem Kind anders äußern. Lesen und schreiben können isoliert gestört sein oder beides gemeinsam. Die Symptome spiegeln sich in der Lesegeschwindigkeit und -genauigkeit, dem Rechtschreiben und dem schriftlichen Ausdruck wider.
Erste Indizien können oft schon im Vorschulalter oder in den ersten Schuljahren erkannt werden. Entwicklungsstörungen des Lesens gehen oft Entwicklungsstörungen des Sprechens oder der Sprache voraus. Viele Kinder zeigen bereits im Kindergartenalter Schwierigkeiten im Umgang mit Wörtern, Silben und Lauten, dem Reimen oder beim Erlernen des Alphabets.
Sie vertauschen Buchstaben beim Lesen und/oder Schreiben. Schreiben spiegelverkehrt. Lesen langsam und mühevoll, machen Lese- und/oder Rechtschreibfehler. Oft lesen und schreiben Kinder ein Wort trotz Verbesserung im nächsten Satz wieder falsch, dann wieder richtig, dann wieder fehlerhaft. Es scheint, als ob das Wort nicht wiedererkannt oder erinnert werden kann.
Auch im Alltag kannst du meist Verhaltensänderungen bei deinem Kind feststellen. Vielleicht hast du den Eindruck, dass dein Kind unaufmerksam und unkonzentriert ist, wenn es um das Lesen und Schreiben geht. Kommt es häufig zu Ablehnung und Frustration beim Hausaufgaben machen? Vielleicht hat dein Kind auch Angst, in die Schule zu gehen und klagt zunehmend über Bauchweh, Kopfweh etc.
Viele Eltern können sich diese Teilleistungsschwäche nicht erklären, denn ihr Kind ist ja ansonsten begabt. Aber genau das ist gemeint, wenn man von Legasthenie spricht: Es handelt sich um ein normalintelligentes Kind mit einer spezifischen Schwäche im Lesen und Schreiben.
Woher kommt Legasthenie?
Eine Legasthenie ist eine Lernstörung, die das Lesen und Schreiben betrifft. Es wird angenommen, dass die Sinneswahrnehmungen bei legasthenen Menschen neurologisch anders verarbeitet werden, wodurch ihre Lernfähigkeit für Lesen und Schreiben beeinflusst wird. Die Legasthenie hat biologische Ursachen, die mit der Reifung des zentralen Nervensystems verbunden sind. Man geht von einer Erblichkeit von 50% bei Lesestörungen und 60% bei Rechtschreibstörungen aus. Wissenschaftler konnten auch Chromosomen ausmachen, die an der Entstehung der Legasthenie beteiligt sein sollen.
Kommt eine Legasthenie häufig vor?
Schätzungsweise bei 15% aller Menschen. In einer Klasse mit 20 Schülern sind etwa 1-3 Kinder von Legasthenie betroffen. Jungen sind zwei- bis dreimal häufiger betroffen als Mädchen.
Ab wann kann eine Legasthenie festgestellt werden?
Eine Diagnosestellung ist ab dem 2. Schuljahr möglich. Und du solltest das auch nicht auf die lange Bank schieben, denn durch vermehrtes Üben zu Hause allein wird sich keine Verbesserung einstellen. Betroffene Kinder brauchen eine Förderung durch qualifizierte Legasthenietherapeutinnen und -therapeuten.
An wen können sich Eltern wenden, die vermuten, dass ihr Kind an LRS leidet?
Um festzustellen, ob eine Legasthenie gemäß ICD-10 (= Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) vorliegt, sollte dein Kind von einer Expertin oder einem Experten untersucht werden. Hierzu zählen u.a. Ärztinnen und Ärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapeuten und Logopädinnen. Auch Schulberatungsstellen oder spezielle LRS-Beratungsstellen sind gute Anlaufpunkte. Du kannst dich auch an die Lehrkraft deines Kindes oder die schulpsychologische Anlaufstelle wenden und deine Beobachtungen schildern.
Worauf sollten Eltern bei der Auswahl der richtigen Therapeutin/des richtigen Therapeuten achten?
Eltern sollten darauf achten, dass der Therapeut oder die Therapeutin qualifiziert und erfahren in der Behandlung von Legasthenie ist. Eine gute Therapie sollte auf die individuellen Bedürfnisse des Kindes zugeschnitten und symptomspezifisch sein, also direkt an den Schwierigkeiten ansetzen und auf wissenschaftlich evaluierte Förderprogramme setzen, deren Wirksamkeit belegt ist.
Was passiert während einer Legasthenie-Therapie, wie lange dauert sie und kann man LRS „heilen“?
In der Therapie wird gezielt an den Lese- und Schreibfähigkeiten des Kindes gearbeitet. Dabei kommen oft spezielle Übungen und Lernprogramme zum Einsatz, die dein Kind Schritt für Schritt unterstützen. Eine Therapie kann mehrere Monate bis Jahre dauern, abhängig von der Schwere der Legasthenie. LRS kann nicht „geheilt“ werden, aber bei einer guten Förderung kann dein Kind sich kontinuierlich weiterentwickeln und sein Potential voll ausschöpfen.
Was sind deine Top-Tipps an Eltern, um ihr Kind bestmöglich zu begleiten?
1. Am wichtigsten: Sei geduldig und verständnisvoll. Zeige deinem Kind, dass du hinter ihm stehst und es annimmst – mit all seinen Stärken und Schwächen. Apropos: Fördere die Stärken deines Kindes und sein Selbstwertgefühl! Denn Kinder, die ihre Stärken kennen, können besser mit ihren Schwächen umgehen. Das hilft auch, schulische Herausforderungen und Niederlagen besser zu meistern.
2. Früh anfangen lohnt sich. Sitze Probleme nicht aus, sondern suche deinem Kind und dir früh Unterstützung!
3. Sprich mit deinem Kind! Der Beitrag „Was ist LRS“ aus der „Sendung mit der Maus“ ist eine schöne Hilfe, um deinem Kind die Diagnose zu erklären und aufzuzeigen, dass es nichts mit seiner Intelligenz und Begabung zu tun hat.
4. Schaffe zu Hause eine positive Lernumgebung durch Geduld, Zeit, Ruhe und Motivation.
5. Vermeide stundenlanges Üben zu Hause. Nutze stattdessen kurze und regelmäßige Übungszeiten und vermittle die Bedeutung der Schriftsprache im Alltag: Überall gibt es Geschriebenes – im Supermarkt, auf Werbeflächen, in öffentlichen Verkehrsmitteln usw. Wenn du einen Einkaufszettel schreibst, kannst du dein Kind daran beteiligen. Auch kleine geschriebene Merkzettel, Geburtstagsgrüße etc. sind tolle Übungsmomente.
6. Frage in der Schule, ob die Möglichkeit für einen Nachteilsausgleich besteht. Unter „Nachteilsausgleich“ versteht man besondere Maßnahmen, mit denen man die Benachteiligung des Kindes durch seine Störung ausgleichen möchte. Hierzu zählen z.B. längere Bearbeitungszeiten, das Nichteinbeziehen der Rechtschreibung in die Note, mündliche statt schriftlicher Tests etc.
7. Lies deinem Kind weiterhin vor und lest gemeinsam. Suche Bücher und Zeitschriften nach den Interessen deines Kindes aus. Sprich im Rahmen des Vorlesens mit deinem Kind über die Inhalte. Stelle Verständnisfragen und verknüpfe das Gelesene mit seiner Lebenswirklichkeit.