Richtig vorlesen: der ultimative Guide
Mit dieser Checkliste wird Vorlesen ab sofort zu Ihrem Lieblingsritual
Dr. Michaela Hopf hat eine Professur für Wissenschaft, Theorien und Forschungsmethoden in der Kindheitspädagogik an der Hochschule Düsseldorf. Dort leitet sie den Studiengang „Kindheitspädagogik und Familienbildung“. Nach dem Interview zum Thema Sprachförderung im vorherigen Beitrag geht es heute in die Praxis: Im Gespräch erklärt die Expertin, welche Vorlesearten es gibt und was ihr persönlicher Tipp für ausdrucksstarkes Lesen ist. Am Ende des Beitrags wartet eine Checkliste für rundum gelungenes Vorlesen auf Sie.
Unser Tipp: Altersgerechte Geschichten, sorgfältig ausgewählte Wörter und Themen, lustige Reime, die bei Kindern die Freude an der Sprache wecken. Mit Kolala, unserem Vorlese-Magazin für Kinder ab 2 Jahren, macht gemeinsames (Vor-)Lesen besonders viel Spaß.
Frau Prof. Dr. Hopf, wie liest man richtig vor?
Um von Anfang an eine Sorge zu nehmen: Man kann nicht viel falsch machen beim Vorlesen. Wenn man sich die Zeit nimmt, einem Kind vorzulesen, hat man schon eine sehr gute Entscheidung getroffen. Darüber hinaus geht es darum, einen guten Zeitpunkt zu wählen und eine freundliche Atmosphäre zu schaffen, in der Kinder und Erwachsene sich wohlfühlen. Dann können sich Lesefreude und Interesse an Büchern entwickeln.
Die Frage, wie man richtig vorliest, richtet sich danach, was man erreichen möchte.
Wenn man sich die Zeit nimmt, einem Kind vorzulesen, hat man schon eine sehr gute Entscheidung getroffen.
Beim klassischen Vorlesen nehmen Kinder eine passive Rolle ein. Sie konzentrieren sich auf das gesprochene Wort. Wenn man sich dabei eng aneinander kuschelt, haben alle einen guten Blick ins Buch. Je mehr es gelingt, die Stimme passend zur Geschichte zu variieren, mal lauter, mal leiser, langsamer oder schneller zu sprechen und einzelnen Figuren unterschiedliche Stimmen zu verleihen, desto leichter fällt es Kindern, sich auf das Vorlesen einzulassen und dabeizubleiben. Vorlesen kann man üben – ebenso wie Kinder lernen, vorgelesen zu bekommen. Wie bei allem wird man mit der Zeit immer besser.
Im Gegensatz zum klassischen Vorlesen geht es beim dialogischen Vorlesen nicht darum, eine Geschichte von Anfang bis Ende vorzulesen. Die Geschichte wird als Anlass genutzt, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Man entdeckt zum Beispiel auf einem Bild ein spannendes Detail und überlegt gemeinsam, wie die Geschichte sich fortsetzen könnte. Wichtig ist es, bei dieser Form des Vorlesens Interesse an den Ideen der Kinder zu zeigen und sie nicht zu schnell mit eigenen Vorschlägen zu unterbrechen.
Warum sind Routinen (auch beim Vorlesen) für die frühkindliche Förderung wichtig?
Kleine Kinder können noch nicht sprechen, lesen oder die Zeit deuten. Dann kann der Alltag schnell unvorhersehbar sein. Routinen und Rituale sind deshalb bedeutsame und feste Pfeiler, die Kindern Sicherheit im Tagesablauf garantieren.
Je mehr Routinen im Alltag vorhanden sind, desto leichter wird es für Kinder, sich zu orientieren: Der Tag beginnt mit dem Frühstück und danach zieht man sich an und geht aus dem Haus. Am Abend wird zusammen gegessen. Danach zieht man sich um, geht ins Bett und liest noch gemeinsam. Für Kindern sind viele Situationen dann nicht mehr zufällig und unvorhersehbar, sondern etwas, worauf sie sich einstellen und verlassen können.
Auch Vorlesen ist ein fester Pfeiler in der Kindheit. Besonders schön ist es, wenn Kinder mitbestimmen, wie das abendliche Vorlesen ablaufen soll. Möchten sie vorgelesen bekommen oder tut ihnen ein lebendiges Gespräch gut? In welcher Form auch immer: Vorlesen ist ein wichtiger Bestandteil sprachlicher Bildung. Je früher damit begonnen wird und je regelmäßiger es erfolgt, desto besser.
Wenn Sie nur einen einzigen Tipp zum Vorlesen geben könnten, welcher wäre das?
Für das Vorlesen würde ich Eltern raten: Hören Sie sich auch selber zu. Wenn Ihnen selbst beim Vorlesen langweilig wird, weil die Geschichte öde ist oder Sie den Figuren und Handlungen kein Leben über Ihre Stimme verleihen, dann können Sie auch von Ihrem Nachwuchs keine Begeisterung erwarten. Je mehr Freude Sie selbst hingegen am Vorlesen haben und je mehr Spaß Ihnen die Themen machen, über die Sie mit Ihren Kindern sprechen, desto begeisterter werden auch die kleinen Zuhörer sein. Orientieren Sie sich am Interesse Ihrer Kinder und sorgen Sie dafür, dass auch Sie selbst Freude am Vorlesen haben. Und dann hören Sie nicht mehr auf vorzulesen!
Wie sieht Ihre Checkliste für ein rundum gelungenes Vorlesen aus?
Idealerweise lesen Sie Ihren Kindern täglich oder sehr regelmäßig vor, um eine Vorleseroutine zu entwickeln. Wenn Sie diese Punkte hier beachten, kann nichts schiefgehen.
Die Vorbereitung:
- Welche aktuellen Bedürfnisse haben Ihre Kinder? Sind Sie unruhig und aufgedreht, wach und konzentriert oder einfach nur müde? Müssen sie für die Vorlesesituation motiviert werden oder sind sie von Anfang an begeistert dabei?
- Wie geht es Ihnen als Vorleserin oder Vorleser? Was wünschen Sie sich von der Vorlesesituation? Können Sie beim Vorlesen und im Dialog authentisch sein, haben Sie Spaß und Freude an der Geschichte? Passen Ihre Stimmlage, Ihre Gestik und Mimik zur Geschichte?
Die Auswahl des Vorlesestoffs:
- Ist die Länge angemessen?
- Ist das Thema altersgerecht?
- Trifft das Thema die Interessen Ihrer Kinder?
- Regen Text und Bilder die Neugier und Phantasie an?
- Gibt es interessante Figuren in der Geschichte, mit denen sich Ihre Kinder identifizieren können?
- Lassen sich eigene Gedanken und Ideen zum Text entwickeln? Gibt es vielleicht sogar Situationen, in denen ein Problem gelöst oder eine Herausforderung gemeistert werden muss?
- Bietet der Text Anregungen für ein Gespräch? Fallen Ihnen spontan Fragen zum Text ein?
Die Vorlesesituation:
- Achten Sie auf eine ruhige Atmosphäre.
- Alle sollten bequem sitzen und das Buch gut im Blick haben.
Dialogisches Lesen:
- Ihre Kinder dürfen und sollen sich aktiv beteiligen.
- Sie stellen Fragen, regen zum Nachdenken oder Weiterentwickeln der Geschichte an.
- Ziel ist es, ins Gespräch über die Geschichte zu kommen.
- Frageideen sind: Was würdest du tun? Hast du sowas schon einmal erlebt? Wie war das? Das ist eine gute Idee, wir könnten dann auch noch xy machen. Wie findest du das?
Klassisches Vorlesen:
- Ihre Kinder sind Zuhörer.
- Sie lesen die Geschichte vor.
- Wenn es spannend wird, bietet es sich an, die Geschichte einmal zu Ende zu lesen, bevor ein gemeinsamer Austausch gesucht wird.